21. April 2017
Seit längerer Zeit kursieren im Netz Videos, in denen Männer Teil eines Experimentes sind, in welchem ihnen durch Stromimpulse, die an ihre Muskeln weitergeleitet werden, die Schmerzen einer Geburt näher gebracht werden sollen. Es gibt unzählige Varianten davon im Internet und auch verschiedene prominente Männer haben durch ihre Teilnahme im deutschen (und weltweiten) Fernsehen dazu beigetragen, das gängige Bild von Geburten in unserer Gesellschaft weiter anzuheizen. In der RTL-Sendung „Das Jenke-Experiment“ zum Thema „Frau-sein“ besuchte der Protagonist Jenke von Wilmsdorf eine Hebammenpraxis in den Niederlanden und bekam an der Bauchregion Elektroden angeschlossen, durch die mit steigender Intensität Strom geleitet wurde. Die Folge: die Muskulatur zieht sich zusammen. In der Sendung sah man dann zwei Stunden lang einen sich zunehmend vor Schmerzen krümmenden Mann, mehrheitlich liegend im Bett. Zu Beginn kommentiert Herr von Wilmsdorf: „Dies ist die Hebamme, mit der Lizenz zum Wehtun.“ Und im weiteren Verlauf sagt er: „Noch nie in meinem Leben habe ich solche Schmerzen gespürt. Ich fühle mich vollkommen hilflos. Wer macht das freiwillig mehrere Male durch?“ Auch der Comedian Luke Mokridge unterzog sich schmerzverzerrt vor laufender Kamera der Prozedur. Der Wehensimulator zeigt in allen Videos das gleiche sensationslustige Bild: eine Geburt geht immer mit Schmerzen einher und der Schmerz ist es, der eine Geburt in erster Linie dominiert. Die Überschriften der Youtubevideos zu diesem Thema lauten „Ehemann erlebt die Qualen einer Geburt“, „Krasse Schmerzen bei der Geburt“, „So fühlt sich eine Geburt an“ oder „Wenn Männer Kinder kriegen“. Auch in anderen Ländern scheint dieses Experiment sehr beliebt. So finden sich in verschiedenen Sprachen Videos mit dem immer gleichen Test der Wehensimulation bei Männern.
Warum ist dies so?
In unserer Gesellschaft gibt es ein bestimmtes Bild von dem Thema Geburt. Die meisten Menschen teilen die Ansicht, dass eine Geburt grundsätzlich ein nicht kalkulierbares Risiko ist. Gebären ist gefährlich. Ein Kind außerhalb eines Krankenhauses zur Welt zu bringen, erscheint da abwegig. Die vermeintliche Sicherheit einer Klinik sucht der mehrheitliche Teil aller Frauen in Deutschland auf, um dort, in einer der sensibelsten Stunden ihres Lebens, unter der Aufsicht der Medizin, ihr Kind zu gebären. Und auch wenn eine Frau sich entscheidet, ihr Kind zu Hause zu bekommen, zweifelt sie in der Regel nicht daran, dass dies trotz aller Kerzen ein schmerzhafter Prozess sein wird. Der Schmerz dominiert das Gesicht einer Geburt. Der biblischen Botschaft „Unter Schmerzen sollst du gebären!“ glauben die Menschen seit Generationen. Sie ist – laut der Bibel – die Strafe für Adam und Evas Kosten von den Früchten vom Baum der Erkenntnis. In der Bibel ist dies auch, neben anderen Strafen, der Preis dafür, die Neugierde zu befriedigen und vor die Türen des Paradieses zu schauen, zu erkennen, was gut und was böse ist, denn im Paradies gibt es nur das Gute. Erst danach entsteht das Gefühl für Schamheit über die zuvor völlig selbstverständliche Nacktheit. Heute begreifen auch christliche Theologen und Laien die Erzählung über das Paradies und den Sündenfall mehrheitlich wieder als Bild über das Menschsein und die Beziehung des Menschen zu Gott, als Nachdenken über das Böse und die Möglichkeiten seiner Überwindung. Sigmund Freud hat 1908 mit seiner Annahme, dass die Frau von einem ständigen Penisneid geplagt wird, dazu beigetragen, das patriarchalische Denken der Menschen zur damaligen Zeit weiter zu schüren. Ich frage mich an dieser Stelle: ist es möglicher Weise nicht eher der männliche Neid auf die weibliche Gebärfähigkeit gewesen, der vor tausenden von Jahren schon Männer dazu bewogen hat, den prägenden Satz „Unter Schmerzen sollst du Gebären“ zu schreiben und der bis heute unsere Sicht auf Geburt beeinflusst?
In den Medien wird eine Frauen mit Wehen in der Regel schreiend, ja fast schon nicht mehr zurechnungsfähig beschrieben. Ich erinnere mich, wie ich als früher Teenager im Kino den Film „Guck mal wer da spricht“ gesehen habe. Kirstie Alley wälzt sich zum Monster mutiert und unter lauten Schreien von der ersten Wehe an durch die Geburt ihres Sohnes. Millionen von Zuschauern haben diesen Film 1989 gesehen. Diese (und andere mediale) Bilder haben mich und sicher unzählige andere Frauen, neben den Erzählungen anderer weiblicher Personen in meiner Umgebung, geprägt und beeinflusst in meinem Glauben, wie Geburt sich anfühlen muss. Ich glaube, dass das Bild von der gefährlichen und schmerzhaften Geburt auch dazu beigetragen hat, dass sich das Sterben der außerklinischen Geburtshilfe immer weiter fortsetzt. Wenn wir also von einer Gefahr und starken Schmerzen ausgehen, liegt es nahe, eine Klinik aufzusuchen mit all ihren Geräten, ihren Heilsversprechen, ihrer Technik und ihrer Routine.
Als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, zeigte mir meine Schwiegermutter ein Buch, welches sie – selber schwanger mit ihrem ersten Kind – von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte. Viele Jahre später erfuhr ich auf einer Fortbildung mit Ina May Gaskin, dass dies ihr absolutes Lieblingsbuch sei: „Mutter werden ohne Schmerz“ von Grantly Dick-Read. Der Arzt beschreibt darin seine Beobachtungen von verschiedenen Geburten und eben auch solchen, bei denen die Frauen später fast schon verschämt angaben, dabei keine Schmerzen gespürt zu haben. Das Buch wurde in 8 Sprachen übersetzt und erschien erstmalig 1950.
Das Berliner Ärzteblatt schreibt damals: „ Dick-Reads Buch will ein Mittel sein, die Frauen von der Last mittelalterlicher Irrtümer zu erlösen und sie damit wieder zu den großen Naturgaben zu befähigen, die die Zivilisation unter Bergen des Unverstandes verschüttet hat. Das Buch sollte von Ärzten, Hebammen und schwangeren Frauen gelesen werden.“
Meine eigene Mutter prophezeite mir, als ich sie vor 13 Jahren aus dem Kreißsaal bei Beginn der Geburt meines ersten Kindes anrief, dass „das“ nicht so harmlos bleiben und sehr schmerzhaft werden würde. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch sehr zuversichtlich gewesen. Sie war sich nicht darüber bewusst, was ihre Prophezeiung bewirken könnte, denn ich bin mir sicher, sie hätte sonst so nicht zu mir geredet. Meine Schwiegermutter erzählte mir 9 Jahre später und wenige Wochen vor der Geburt meines dritten Kindes, dass sie im Gegensatz zu der ersten Geburt beim zweiten Mal – abgesehen von einem periodenähnlichen Ziehen – keine Schmerzen gespürt hatte. Mehrmals hinterfragte ich ihre Aussage und sie bestätigte ihre Wahrnehmung immer wieder. Das hat mir damals sehr geholfen. Sie lebt nicht mehr, aber ich werde ihr für ihre Schilderung für immer dankbar sein.
Einige Jahre vor ihrem Tod, fuhr ich einmal Therese Schlundt nach einer Filmvorführung des Dokumentarfilms „Orgasmic Birth“ heim. Die damals schon stark sehbehinderte Frau gilt bis heute als Kölner Urgestein in der traditionell sehr hausgeburtsfreudlichen Stadt. Sie hat verschiedene Bücher geschrieben, immer in der Hausgeburtshilfe gearbeitet und dabei nie eine einzige Frau verloren. Die einzige Frau, die verstarb, befand sich in der Klinik. Auch wenn ich die Geschichte der Geburt ihrer Tochter aus ihrem Buch schon kannte, war es besonders beeindruckend, wie die gläubige Katholikin mir in unserem alten Golf in der Dunkelheit auf der Autobahn davon berichtete, dass sie in der Phase der eigentlichen Geburt ihres Kindes einen unglaublich guten, lustvollen und intensiven Orgasmus verspürte.
Wie kommt es dazu, dass einige Frauen die Geburt extrem lustvoll erleben und manche sogar schmerzfrei und dennoch so viele Frauen ganz andere Erfahrungen machen? Es wäre falsch vorschnell daraus zu urteilen, dass eine orgastische Geburt nur einigen wenigen Frauen vorbehalten wäre. Meiner Meinung nach gibt der Film „Orgasmic Birth“ von Debra Pascali-Bonaro auf diese Frage eine ausführliche und beeindruckende Antwort. Wenn wir in Liebe gebären wollen, dann müssen wir ähnliche Bedingungen schaffen, wie bei gutem Sex.
Eine Frau berichtete mir einmal, dass ihr ihre Hebamme gesagt hätte, Gebären wäre wie eine Melone kacken. Dieses Bild hatte die Frau schon in der Schwangerschaft verängstigt und dann auch durch die Geburt begleitet, welche schließlich im Kaiserschnitt endete. Bilder sind machtvoll. Sie können unser Denken und unsere Gefühle verändern. Eine Melone (die eigentlich langsam wächst) zu kacken, wäre ein durch und durch pathologischer Vorgang. Er wäre unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Die Hebamme benutzt diesen Vergleich, um der Frau das Gebären zu veranschaulichen. Das Poloch ist aber nicht dafür gedacht, neues Leben zu gebären, es kann sich zwar auch bei Entspannung weiten, aber diese Öffnung ist für ein Abfallprodukt des Körpers vorgesehen. Wie kommt eine Frau dazu, einer Erstgebärenden mit einem solch gewalttätigen Bild den Vorgang einer Geburt demonstrieren zu wollen? Was für Erfahrungen haben diese Hebamme geprägt?
Die zu Beginn des Textes beschriebenen Wehenexperimente halte ich trotzdem nicht nur für sachlich gesehen falsch, ich bin sogar der Meinung, dass sie gefährlich sind und in ihrer machtvollen Dimension unterschätzt werden. Ich kann deshalb darüber auch nicht lachen und werde sie niemals teilen.
Ein Mann besitzt – anders als Frauen – keine Gebärmutter. Er hat auch keine Vagina. Wenn nun also Strom an die Bauchmuskulatur eines Mannes geleitet wird, wie kann dabei ernsthaft auch nur annähernd angenommen werden, dass bei dem Mann ein realistischer Eindruck davon entsteht, was eine Frau unter dem Einfluss von Wehen spürt? Ein Mann verfügt auch nicht über einen fein aufeinander abgestimmten Hormoncocktail, der ihm hilft, sich auf das Öffnen und die Hingabe einzustellen. Zudem befinden sich in vielen Videos die Männer in Rückenlage, was bei den Zuschauern das Gefühl verstärkt, Wehen wären etwas, was eine Frau passiv hinzunehmen und zu ertragen habe.
Was braucht unsere Gesellschaft, um ein anderes Bild von Geburten zu bekommen?
Brauchen wir solche Wehensimulationen?
Was bewirkt ein solches Experiment bei Männer – ja, bei allen Zuschauern, welche die „Stromleiden“ ansehen?
Es fördert unsere einseitige Sicht auf das Gebären in unserer Gesellschaft, es spielt der klinischen Geburtshilfe in die Hände, die Frauen und Babys beim Gebären als gefährdet darstellt, um ihre Technologie und ihre Interventionen zu rechtfertigen und es unterstreicht die – so glaubt man(n) – unvermeidbare Schmerzhaftigkeit der Wehen. Männer werden eventuell Mitleid mit Frauen haben und ihren Wunsch nach einem Kaiserschnitt oder der heilsbringenden PDA unterstützen und begrüßen. Männer (wie Frauen) verfallen in Mitleid oder Angst, wenn sie diese Videos sehen. Ich bin nicht gegen PDA`s . Selbst Ina May Gaskin schreibt in ihrem Buch „Die selbstbestimmte Geburt“ über die Momente, wo eine PDA hilfreich sein kann. Und nur die Frau allein kann darüber entscheiden, wann ihr persönliches Limit erreicht ist. Es ist ihr Körper. Es mag sein, dass es auch Menschen gibt, die beim Anblick der Bauchkrämpfe lachen müssen. Ich glaube, dass es einigen Frauen auch gefällt, Männer in dieser Rolle zu sehen. Liegt der Hintergrund dafür möglicher Weise in unbewussten Erlebnissen durch von Männern dominierten Macht- oder Gewalterfahrungen? Ist es eine Form von Weitergabe dieser aggressiven Handlung, wenn Frauen mit fast schon sadistischer Motivation die Intensität der Stromwellen steuern? „Gefällt“ es einigen Männern, ihre Frauen als Opfer der Geburt zu sehen? Gibt es ihnen unterbewusst die Rechtfertigung, sie der Technik einer Klinik ausliefern zu können? Ich werde das ungute Gefühl nicht los, dass bei Frauen – insbesondere wenn sie noch nicht geboren haben – weiter Angst geschürt wird, statt sie an ihre Gebärfähigkeit und Kraft zu erinnern. Sie bekommen ein Bild vermittelt vom Gebären, was viele Aspekte verschweigt und die Furcht vor der Geburt, welche seit Generationen immer weiter getragen wird, verstärkt und bestätigt.
Spätestens an dieser Stelle höre ich in der Regel von allen Seiten das Argument, dass Gebären nun aber auch wirklich schmerzhaft sei und es ja falsch wäre, den Frauen etwas anderes zu erzählen, aus Angst eine falsche Erwartung bei ihnen zu schüren, die dann doch nicht erfüllt wird. Ich finde aber, dass genau dies nicht passend ist, denn mit der Annahme, dass Gebären auch weh tun kann, werden ausnahmslos alle Frauen im Laufe ihres Lebens konfrontiert. Sie müssen sich zwangsläufig mit dieser These vor, innerhalb und nach ihrer fruchtbaren Zeit auseinander setzen. Fernsehsendungen, Zeitungen, Internet, Gespräche unter Freundinnen,… sind voll davon. Ein anderes Bild ist kaum präsent. Könnte es sein, dass sich einige Frauen sogar in ihrer schmerzhaften Opferrolle zumindest unterbewusst gefallen? Ich habe Frauen die unabwendbare Schmerzhaftigkeit einer Geburt mit einer solchen Intensität verteidigen sehen, dass ich das Gefühl hatte, sie würden die Tatsache, dass es Frauen gibt, die dies nicht bestätigen können, als persönlichen Angriff auf ihre eigene Existenz sehen.
Ganz ohne Frage: Gebären KANN schmerzhaft sein – egal wo die Frau sich zum Zeitpunkt der Geburt befindet. Aber auch Sex kann schmerzhaft sein. Anstrengend ist Gebären so gut wie immer, eben eine körperliche Höchstleitung. Und es wäre ganz sicher fatal und auch falsch, den Frauen schmerzfreie Geburten zu versprechen, wenn sie bloß diesen oder jenen Ratschlag beherzigen oder welches Hilfsmittel auch immer dafür erwerben. Aber ihnen die Information zu verwehren, dass es möglich ist, auch ohne Medikamente eine schmerzfreie oder zumindest schmerzarme Geburt zu erleben, wäre ebenso falsch.
Dass Gebären auch lustvoll sein kann, schmerzfrei oder zumindest schmerzarm – das sagt ihnen in der Regel niemand. Wie auch, wenn so wenige Frauen (und Männer) davon wissen oder innerhalb unserer Geburtshilfe durch entsprechende Bedingungen kaum Raum dafür geschaffen wird. Es wird wenig darüber berichtet, was freudvolle und positive Geburtserlebnisse begünstigen. Und über Frauen, die Orgasmen während der Geburten ihrer Kinder erleben, wird aus Scham sehr selten geredet. Der Mann hat ganz selbstverständlich einen Orgasmus bei der Zeugung des Kindes. Hier ist dieses Gefühl akzeptiert. Ist Dir bewusst, dass dein Vater einen Orgasmus bei Deiner Zeugung hatte? Dass Frauen einen Orgasmus bei der Geburt ihres Kindes erleben, klingt in den Ohren vieler Leute fast schon abartig. Was soll denn da das Kind denken? Ja, was soll es denn denken? Über den zunehmenden Verlust des Liebeshormons Oxytocin hat Michel Odent schon oft berichtet. Dass dieses Hormon gedankenlos während so vieler Geburten durch künstliche Wehenmittel ersetzt wird, scheint kaum jemanden zu kümmern. Betrachten wir die gängige Geburtshilfe, wird alles, was orgastische Geburten begünstigt, fast vollkommen ausgeschlossen. Unter dem Gefühl, beobachtet zu werden, entwickeln sich selten sinnliche Gefühle. Frauen gebären aber mit ihrer Vagina, Geburten sind Teil unserer Sexualität und dies auszublenden, ist fatal. Wir sind von der Natur dafür gemacht, lustvoll zu Gebären.
Ich glaube, es ist für unsere Gesellschaft zwingend nötig, dass wir Berichte darüber teilen, was lustvolle Geburtserlebnisse fördert und wie es möglich ist, sie als Bereicherung zu erleben, statt Videos über sinnlose künstliche Wehenstimulationen an der Bauchmuskulatur von Männern zu teilen. Es wird Zeit, ein neues Bild von Geburten zu malen. Und jeder Mensch auf dieser Erde sollte sich dazu aufgerufen fühlen, seiner Verantwortung auch für alle nachfolgenden Generationen nachkommen, Frauen Lust auf das Gebären zu machen. Damit Männer uns im positiven Sinne um das Gebären beneiden und stolz sind auf unseren wunderbaren, schöpferischen Akt.